Die Arbeitszeiterfassung wird zur Pflicht. Urteil bereits aus 2019
In Deutschland machen 4,5 Mio. Menschen im Durchschnitt Überstunden. Noch vor der Pandemie – nämlich 2019 – sorgte der EuGH mit einem Grundsatzurteil für einen Paukenschlag und machte die Arbeitszeiterfassung zur Pflicht. Aber eben durch die Pandemie hat der Grad an Flexibilisierung der Arbeit immer weiter zugenommen. Wie passt das zusammen?
Aktuell liegt der Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitsschutzgesetzes auf dem Tisch und wir reden darüber in dieser Podcastfolge.
Um was geht es überhaupt?
Ursprung der Diskussion ist ein Urteil des europäischen Gerichtshofes zur Erfassung der Arbeitszeit.
2019 klagte die spanische Gewerkschaft CCOO vor dem spanischen Nationalem Gerichtshof, dass die Deutsche Bank ein System zur Erfassung der von deren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten hat. Nur so könne der Gewerkschaft die monatlich geleisteten Überstunden übermittelt und von dieser Seite überprüft werden.
Eine allgemeingültige Verpflichtung sah das spanische – und übrigens auch das deutsche Recht – nicht vor.
Das spanische Nationalgericht zog den europäischen Gerichtshof hinzu, der 2019 entschied, dass eine Arbeitszeiterfassung zu erfolgen habe.
Der Gerichtshof stellt fest, dass ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden kann, so dass es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich ist, ihre Rechte durchzusetzen.
In Deutschland haben 2021 4,5 Mio. Menschen im Durchschnitt Überstunden gemacht. 29% davon gaben an, mindestens 15 Überstunden in der Woche zu machen.
Das Bundesarbeitsgesetz fiel im September letzten Jahres ebenfalls ein Grundsatzurteil und stellte die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung fest. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz mussten bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit.
Das war ein Paukenschlag, weil damit die Kontrolle der Arbeitnehmer zunehmen würde – so die Befürchtungen der AG und Vertrauensarbeitszeitmodelle somit nicht mehr möglich seien. Dieser Wegfall an Flexibilität ist ein wichtiges Argument gegen die Erfassung.
Soweit die Vorgeschichte.
Referentenentwurf zur Arbeitszeiterfassung sorgt für Wirbel
Das Urteil war dann auch die jeweiligen Bunderegierungen der Startschuss die Vorgaben in deutsches Recht umzusetzen. Ende April 2023 – also vor ca. 2 Wochen – kam der Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums an die Öffentlichkeit.
Für alle, die nicht wissen, was ein Referententwurf ist: Von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzesvorlagen werden im Regelfall durch die Bundesministerien und Referatsleiter und Hilfsreferenten vorbereitet. Kurz gesagt: Es sind Gesetzesentwürfe der Regierung.
Was ist die Kernregelung des Entwurfes?
Der Entwurf verpflichtet zur tagesaktuellen und elektronischen Arbeitszeiterfassung. Und zwar über Beginn, Ende und Dauer. Pausen müssen also nicht aufgezeichnet werden. Abweichungen hiervon sind nur in eng definierten Ausnahmefällen möglich.
Die Aufzeichnungen über die Arbeitszeit müssen für zwei Jahre aufbewahrt werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers muss der Arbeitgeber diesen über die aufgezeichnete Arbeitszeit informieren. Verstöße gegen diese Pflichten haben ein Bußgeld zur Folge.
Was soll erfasst werden?
Die Arbeitszeiterfassung muss grundsätzlich elektronisch und am Tag der Arbeitsleistung erfolgen.
Excel-Tabelle oder Word-Dokument sind grundsätzlich möglich. Daher muss keine Anschaffung eines Zeitsystems erfolgen.
Ein händisches Erfassen unter der Woche und elektronisches Eintragen am Ende der Woche ist damit also ausgeschlossen. Es muss an jedem einzelnen Arbeitstag abends um 24 Uhr die Arbeitszeit in elektronischer Form festgehalten sein.
Die Erfassung darf an die Mitarbeiter delegiert werden. Verantwortlich bleibt aber der Arbeitgeber. Aus dem Referentenentwurf geht nicht hervor, wie das aussehen soll.
Leitende Angestellte sind von dieser Regelung ausgeschlossen.
Probleme bei der Arbeitszeiterfassung, die auftauchen könnten:
Die Spannungsfelder unserer Arbeitswelt 4.0 heißen: Flexibilisierung, Subjektivierung, Digitalisierung. Im Trend: mobiles Arbeiten, Workation und Co-Working. Da passt die ausgefüllte Excel-Tabelle kaum noch rein.
Das Instrument der Arbeitszeiterfassung hilft wenig, wenn eine implizite Erwartung besteht, dass Beschäftigte mehr als ihr gesetzliches Soll leisten oder aufgrund von schlechter Planung oder einer dünnen Personaldecke zu Überstunden gezwungen sind. Natürlich können dokumentierte Überstunden abgefeiert oder gar ausbezahlt werden, doch die Ursache des Problems wird damit nicht behoben und der akute Stress nicht abgemildert. Kurz gesagt: Die Gesetzgebung schützt nicht vor einer toxischen Unternehmenskultur.
- Leistung wird mit Arbeitszeit gleichgesetzt
Vertriebsleiter mit hoher Umsatzverantwortung. Dessen Leistung lässt sich nicht nur in Zeit messen. Es kommt häufig auf Kontakte, Beziehungen und eben auch Erfahrung an.
- Menschen brauchen Flexibilität, um Arbeit und Berufsleben überhaupt möglich zu machen.
Viele Menschen sind froh über die Flexibilität, sich um Kinder und Beruf gleichermaßen zu kümmern. Die Arbeit wird nachmittags für eine gewisse Zeit pausiert und abends wieder aufgenommen.
Doch abends um 22 Uhr an den Rechner und eine Mail verschicken? Schwierig. Was schreiben Sie in diesem Fall genau auf? Endet die Arbeit um 22 Uhr oder „summiert“ man die 5 Minuten on-top auf den eigentlichen Feierabend um 17:00?
Und nicht zu verachten ist die Ruhezeit von 11h nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit.
- Ausnahmen für Berufsfelder
Das starre Einhalten von Höchstarbeitszeiten und Ruhephasen hat mit dem Alltag von vielen Berufen nichts gemein. Wenn es im laufenden Projekt brennt, der Kunde um seine wirtschaftliche Existenz bangt oder im schlimmsten Fall ein Patient dringende Versorgung braucht, kann der erste Gedanke gerade nicht der Stechkarte gelten.
- Was passiert, wenn für alle sichtbar wird, dass „etwas schief“ läuft?
Wie bereits zu Beginn erwähnt, werden in Deutschland Überstunden eingelegt. Diese werden auch zum Großteil erfasst. In den Betrieben, die bereits die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten erfassen, wurden 2022 583 Millionen bezahlte und 702 Millionen unbezahlte, aber ausgeglichene Arbeitsstunden geleistet, das sind 14 bezahlte und 17 unbezahlte, aber ausgeglichene Arbeitsstunden pro Beschäftigtem und Jahr.
Also wem bringt das Ganze etwas?
Ich hoffe, dass die Transparenz die Entwicklungen in einigen Berufen zum Positiven wendet. Ich gehe dabei von Krankenhäusern und Pflegediensten aus. Wenn die Erfassung hier Missstände aufdeckt, ist das ein Gewinn.
Vielleicht ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und Unternehmen zum Umdenken i. H. a. den Fachkräftemangel zwingt. Wer weiß?
Dass der Fachkräftemangel spürbar wird und sich die Kräfteverhältnisse verschieben, zeigen nicht zuletzt die Streiks im öffentlichen Dienst.
Die Frage ist, ob eine Erfassung der Lebenswirklichkeit vieler Bürger entspricht oder ein riesengroßer bürokratischer Akt ist.
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